Beschluss Nr. A2

vom 12. Juni 2009
zur Auslegung des Artikels 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der auf entsandte Arbeitnehmer sowie auf Selbständige, die vorübergehend eine Tätigkeit in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat ausüben, anzuwendenden Rechtsvorschriften
(Text von Bedeutung für den EWR und das Abkommen EG/Schweiz)
2010/C 106/02

 

DIE VERWALTUNGSKOMMISSION FÜR DIE KOORDINIERUNG DER SYSTEME DER SOZIALEN SICHERHEIT —
gestützt auf Artikel 72 Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [1], wonach die Verwaltungskommission alle Verwaltungs- und Auslegungsfragen zu behandeln hat, die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [2],
gestützt auf Artikel 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004,
gestützt auf die Artikel 5, 6 und 14 bis 21 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009,
in Erwägung nachstehender Gründe:
(1) Mit Artikel 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, der eine Ausnahme von der in Artikel 11 Absatz 3 Buchstabe a dieser Verordnung festgelegten allgemeinen Regelung vorsieht, soll insbesondere zweierlei gefördert werden: einerseits der freie Dienstleistungsverkehr zugunsten der Arbeitgeber, die Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten als denjenigen entsenden, in dem sie ihren Sitz haben; andererseits die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben. Die Bestimmungen zielen somit darauf ab, die Hindernisse, die der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Wege stehen, zu beseitigen und gleichzeitig die gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung zu fördern, indem insbesondere für Arbeitnehmer und Unternehmen ein erhöhter Verwaltungsaufwand vermieden wird.
(2) Diese Vorschriften sollen somit Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Trägern der sozialen Sicherheit den sich aus der allgemeinen Regelung des Artikels 11 Absatz 3 Buchstabe a dieser Verordnung ergebenden Verwaltungsaufwand dann ersparen, wenn es sich um eine kurze Erwerbstätigkeitszeit in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat handelt, in dem der Selbständige normalerweise seine Tätigkeit ausübt.
(3) Für die Anwendung des Artikels 12 Absatz 1 dieser Verordnung ist erste ausschlaggebende Voraussetzung, dass eine arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem Arbeitgeber und dem von diesem eingestellten Arbeitnehmer vorliegt.
(4) Der Schutz des Arbeitnehmers und die Rechtssicherheit, die der Arbeitnehmer und der Träger, bei dem er versichert ist, beanspruchen können, machen es notwendig, dass alle Garantien zur Aufrechterhaltung der arbeitsrechtlichen Bindung für die Dauer der Entsendung gegeben werden.
(5) Als zweite ausschlaggebende Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 12 Absatz 1 dieser Verordnung muss eine Bindung zwischen dem Arbeitgeber und dem Mitgliedstaat, in dem er niedergelassen ist, bestehen. Die Möglichkeit der Entsendung muss daher auf Unternehmen beschränkt sein, die ihre Tätigkeit normalerweise im Gebiet des Mitgliedstaats ausüben, dessen Rechtsvorschriften der entsandte Arbeitnehmer weiterhin unterliegt. Es wird davon ausgegangen, dass dies nur für die Unternehmen gilt, die gewöhnlich nennenswerte Tätigkeiten im Mitgliedstaat ihres Sitzes verrichten.
(6) Unbeschadet der Einzelfallbewertung sollten Regelzeiträume für Beschäftigte und Selbständige festgelegt werden.
(7) Die Garantien im Hinblick auf den Erhalt der arbeitsrechtlichen Bindung sind nicht mehr gegeben, wenn der entsandte Arbeitnehmer einem dritten Unternehmen zur Verfügung gestellt wird.
(8) Während der gesamten Entsendung müssen alle notwendigen Kontrollen, insbesondere hinsichtlich Entrichtung der Beiträge und Aufrechterhaltung der arbeitsrechtlichen Bindung, erfolgen können, um eine missbräuchliche Nutzung der oben genannten Vorschriften zu verhindern, und um sicherzustellen, dass die zuständigen Verwaltungsstellen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsprechend informiert werden.
(9) Insbesondere müssen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ordnungsgemäß über die Voraussetzungen für die weitere Unterstellung des entsandten Arbeitnehmers unter die Rechtsvorschriften des Landes, aus dem die Entsendung erfolgt, unterrichtet werden.
(10) Die Bewertung und die Kontrolle der Situation der Unternehmen und der Arbeitnehmer sollte von den zuständigen Trägern so vorgenommen werden, dass dies nicht zu einer Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs oder der Freizügigkeit der Arbeitnehmer führt.
(11) Der in Artikel 10 des EG-Vertrags festgelegte Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit bedeutet für die zuständigen Träger zahlreiche Verpflichtungen bei der Anwendung des Artikels 12 dieser Verordnung.
In Übereinstimmung mit den in Artikel 71 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 festgelegten Bedingungen —
BESCHLIESST:
1. Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gilt für einen Arbeitnehmer, der aufgrund einer Beschäftigung bei einem Arbeitgeber den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (Entsendestaat) unterliegt und von diesem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat (Beschäftigungsstaat) entsandt wird.
Es ist davon auszugehen, dass eine Arbeit für Rechnung des Arbeitgebers des Entsendestaats ausgeführt wird, wenn feststeht, dass diese Arbeit für diesen Arbeitgeber ausgeführt wird und dass eine arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber, der ihn entsandt hat, fortbesteht.
Zur Feststellung, ob eine solche arbeitsrechtliche Bindung weiter besteht, somit für die Frage, ob der Arbeitnehmer weiterhin dem Arbeitgeber untersteht, der ihn entsandt hat, ist ein Bündel von Merkmalen zu berücksichtigen, insbesondere die Verantwortung für Anwerbung, Arbeitsvertrag, Entlohnung (unbeschadet etwaiger Vereinbarungen zwischen dem Arbeitgeber im Entsendestaat und dem Unternehmen im Beschäftigungsstaat über die Entlohnung der Arbeitnehmer), Entlassung sowie die Entscheidungsgewalt über die Art der Arbeit.
Bei der Anwendung von Artikel 14 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 kann die Tatsache, dass die betreffende Person seit mindestens einem Monat unter die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats fällt, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, als Orientierung herangezogen werden, um die Forderung "unmittelbar vor Beginn ihrer Beschäftigung" als erfüllt zu betrachten. Bei kürzeren Zeiträumen erfolgt die Bewertung von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller übrigen Faktoren.
Um erforderlichenfalls oder im Zweifelsfall festzustellen, ob ein Arbeitgeber gewöhnlich eine nennenswerte Tätigkeit im Gebiet des Mitgliedstaats verrichtet, in dem er niedergelassen ist, muss der zuständige Träger dieses Staates in einer Gesamtschau sämtliche Tätigkeiten dieses Arbeitgebers würdigen. Zu berücksichtigen sind dabei u. a. der Ort, an dem das Unternehmen seinen Sitz und seine Verwaltung hat, die Zahl der im Mitgliedstaat seiner Betriebsstätte bzw. in dem anderen Mitgliedstaat in der Verwaltung Beschäftigten, der Ort, an dem die entsandten Arbeitnehmer eingestellt werden, der Ort, an dem der Großteil der Verträge mit den Kunden geschlossen wird, das Recht, dem die Verträge unterliegen, die das Unternehmen mit seinen Arbeitnehmern bzw. mit seinen Kunden schließt, der während eines hinreichend charakteristischen Zeitraums im jeweiligen Mitgliedstaat erzielte Umsatz sowie die Zahl der im entsendenden Staat geschlossenen Verträge. Diese Aufstellung ist nicht erschöpfend, da die Auswahl der Kriterien vom jeweiligen Einzelfall abhängt, und auch die Art der Tätigkeit, die das Unternehmen im Staat der Niederlassung ausübt, zu berücksichtigen ist.
2. Bei der Anwendung von Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 wird die Erfüllung der Anforderungen in dem Mitgliedstaat, in dem die Person ansässig ist, unter anderem danach bewertet, ob die Person Büroräume unterhält, Steuern zahlt, einen Gewerbeausweis und eine Umsatzsteuernummer nachweist oder bei der Handelskammer oder in einem Berufsverband eingetragen ist. Übt eine Person ihre Tätigkeit seit mindestens zwei Monaten aus, kann dies als Erfüllung der Forderung betrachtet werden, die durch die Formulierung "bereits einige Zeit vor dem Zeitpunkt, ab dem sie die Bestimmungen des genannten Artikels in Anspruch nehmen will" zum Ausdruck gebracht wird. Bei kürzeren Zeiträumen erfolgt die Bewertung von Fall zu Fall unter Berücksichtigung aller übrigen Faktoren.
3. a) Im Rahmen der in Nummer 1 dieses Beschlusses vorgesehenen Bestimmungen gilt Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 weiterhin für die Entsendung von Arbeitnehmern, wenn der von einem Unternehmen des Entsendestaats zu einem Unternehmen des Beschäftigungsstaats entsandte Arbeitnehmer ebenfalls zu einem oder mehreren anderen Unternehmen dieses Beschäftigungsstaats entsandt wird, sofern dieser Arbeitnehmer seine Tätigkeit weiterhin für Rechnung des Unternehmens ausübt, das ihn entsandt hat. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn der Arbeitnehmer von dem Unternehmen in einen anderen Mitgliedstaat entsandt worden ist, um dort eine Arbeit nacheinander oder gleichzeitig in zwei oder mehr in demselben Mitgliedstaat gelegenen Unternehmen zu verrichten. Maßgeblich ist dabei, ob die Arbeit weiterhin für Rechnung des entsendenden Unternehmens verrichtet wird.
Unmittelbar aufeinanderfolgende Entsendungen in verschiedene Mitgliedstaaten führen in jedem Fall zu einer neuen Entsendung im Sinne von Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004.
b) Eine zeitweise Unterbrechung der Tätigkeiten des Arbeitnehmers bei dem Unternehmen des Beschäftigungsstaats gilt unabhängig von der Begründung (Urlaub, Krankheit, Fortbildung im entsendenden Unternehmen usw.) nicht als Unterbrechung der Entsendezeit im Sinne von Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004.
c) Ist die Entsendung eines Arbeitnehmers abgelaufen, kann eine weitere Entsendung für denselben Arbeitnehmer, dieselben Unternehmen und denselben Mitgliedstaat erst nach Ablauf von mindestens zwei Monaten nach Ende des vorangehenden Entsendezeitraums zugelassen werden. Unter besonderen Gegebenheiten kann allerdings von diesem Grundsatz abgewichen werden.
4. Der Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 gilt insbesondere dann nicht oder nicht mehr, wenn:
a) das Unternehmen, zu dem der Arbeitnehmer entsandt ist, diesen Arbeitnehmer einem anderen Unternehmen in dem Mitgliedstaat, in dem es gelegen ist, überlässt;
b) der in einen Mitgliedstaat entsandte Arbeitnehmer einem Unternehmen überlassen wird, das in einem anderen Mitgliedstaat gelegen ist;
c) der Arbeitnehmer in einem Mitgliedstaat angeworben wird, um von einem in einem zweiten Mitgliedstaat gelegenen Unternehmen zu einem Unternehmen in einem dritten Mitgliedstaat entsandt zu werden.
5. a) Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften in den in diesem Beschluss vorgesehenen Fällen für den Arbeitnehmer aufgrund des Artikels 12 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 maßgebend bleiben, unterrichtet den betreffenden Arbeitgeber und Arbeitnehmer ordnungsgemäß über die Voraussetzungen, unter denen der Arbeitnehmer weiterhin unter seine Rechtsvorschriften fällt. Der Arbeitgeber ist somit davon zu unterrichten, dass während der gesamten Zeit der Entsendung Kontrollen durchgeführt werden können, um zu prüfen, ob die Entsendung nicht beendet worden ist. Diese Kontrollen können sich insbesondere auf die Entrichtung der Beiträge und die Aufrechterhaltung der arbeitsrechtlichen Bindung erstrecken.
Der zuständige Träger des Staats der Niederlassung, dessen Rechtsvorschriften für den Selbständigen aufgrund des Artikels 12 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in den in diesem Beschluss vorgesehenen Fällen maßgebend bleiben, unterrichtet ihn ordnungsgemäß über die Voraussetzungen, unter denen er weiterhin unter seine Rechtsvorschriften fällt. Der Betreffende ist somit davon zu unterrichten, dass während der gesamten Zeit der vorübergehenden Tätigkeit im Tätigkeitsstaat Kontrollen durchgeführt werden können, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen für seine Tätigkeit unverändert sind. Diese Kontrollen können sich insbesondere auf die Entrichtung der Beiträge und die Beibehaltung der Infrastruktur erstrecken, die im Staat, in dem er niedergelassen ist, für die Fortführung seiner Tätigkeit erforderlich ist.
b) Ferner unterrichten der entsandte Arbeitnehmer sowie dessen Arbeitgeber den zuständigen Träger des Entsendestaats von allen im Laufe der Entsendung eingetretenen Änderungen, insbesondere
- wenn die beantragte Entsendung tatsächlich nicht erfolgt ist,
- wenn die Tätigkeit in einem anderen als dem in Nummer 3 Buchstabe b dieses Beschlusses genannten Fall unterbrochen wird,
- wenn der entsandte Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber zu einem anderen Unternehmen im Entsendestaat versetzt worden ist, insbesondere bei Fusion oder Übertragung eines Unternehmens.
c) Der zuständige Träger des Entsendestaats erteilt dem Träger des Beschäftigungsstaats gegebenenfalls auf dessen Anfrage die unter Buchstabe b erwähnten Auskünfte.
d) Die zuständigen Träger des Entsendestaats und des Beschäftigungsstaats wirken bei der Durchführung der oben genannten Kontrollen und auch dann zusammen, wenn ein Zweifel an der Anwendbarkeit des Artikels 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 besteht.
6. Die zuständigen Träger bewerten und kontrollieren die unter Artikel 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 fallenden Situationen und gewährleisten gegenüber den betreffenden Arbeitgebern und Arbeitnehmern, dass dadurch der freie Dienstleistungsverkehr und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigt werden. Vor allem müssen die Kriterien, die herangezogen werden, um zu bewerten, ob ein Arbeitgeber seine Geschäftstätigkeit gewöhnlich in einem Mitgliedstaat ausübt, ob eine arbeitsrechtliche Bindung zwischen einem Unternehmen und einem Arbeitnehmer besteht oder ob ein Selbständiger die für die Ausübung seiner Tätigkeit in einem Staat erforderliche Infrastruktur aufrechterhält, in gleichen oder ähnlichen Situationen konsequent und in gleicher Weise angewendet werden.
7. Die Verwaltungskommission fördert die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Anwendung des Artikels 12 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und sie erleichtert die Bearbeitung und den Austausch von Informationen, Erfahrungen und bewährten Verfahren im Zusammenhang mit der Festlegung und Einstufung der Kriterien zur Bewertung der Situationen von Unternehmen und Arbeitnehmern sowie im Zusammenhang mit den festgelegten Kontrollmaßnahmen. Zu diesem Zweck erarbeitet sie nach und nach für Verwaltungen, Unternehmen und Arbeitnehmer einen Leitfaden mit bewährten Verfahren für die Entsendung von Arbeitnehmern bzw. die Ausübung einer vorübergehenden selbstständigen Tätigkeit außerhalb des Staates der Niederlassung.
8. Dieser Beschluss wird im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Er gilt ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung (EG) Nr. 987/2009.